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Tierintelligenz, Gefühle, Beziehungen

Tierintelligenz

Es ist noch nicht lange her, dass Wissenschaftler überhaupt auf die Idee kamen, nach der Existenz von Intelligenz, Emotionen und Bewusstsein im Tierreich zu fragen. Lange sah man in Tieren nicht Lebewesen, sondern lediglich Sachen, die keinerlei Rechte hatten.
Schon für Aristoteles waren sie ausschließlich Nahrungs- und Rohstofflieferanten. Und im Laufe der Geschichte wurde die Mauer immer höher, die die selbst ernannte „Krone der Schöpfung" zwischen sich und den Tieren errichtet hatte. Als vermeintliche Beweise für menschliche Einzigartigkeit und Überlegenheit, ja Gottebenbildlichkeit, galten (und gelten) Merkmale wie Sprache, Werkzeuggebrauch, Kultur, Moral, Kunst und eben - Intelligenz. Im 17. Jahrhundert fand die Abwertung der Tiere durch René Descartes einen weiteren Höhepunkt. Seiner Überzeugung nach konnte nur der Mensch denken und fühlen. Tiere dagegen waren seelenlose Automaten, die ohne jegliche moralische Skrupel als Versuchsobjekte in grauenvollen Experimenten missbraucht werden durften.

Diese Vorstellungen von der Minderwertigkeit der Tiere wirken bis heute nach. Obgleich Charles Darwin im 19. Jahrhundert auch die Entstehung von Gefühl, Geist und Bewusstsein als evolutionären Prozess beschrieb, der lange vor dem Auftauchen des Homo sapiens im Tierreich seinen Anfang nahm, prägte der Behaviorismus im 20. Jahrhundert das wissenschaftliche Denken. Demnach haben Tiere weder Emotionen noch Bewusstsein und reagieren lediglich nach einem starren Reiz-Reaktionsschema auf Umweltreize. Gedanken und Gefühle bei Tieren zu untersuchen erschien sinnlos - mit Folgen bis in die Gegenwart.

Nach wie vor weigern sich viele moderne Wissenschaftler, die Existenz tierlicher Emotionen und Intelligenz anzuerkennen, geschweige denn zu untersuchen. Und manche Philosophen versuchen in geschickter und wortgewandter Argumentationsakrobatik, verhaltens- und kognitionsbiologische Erkenntnisse wegzudiskutieren oder wenigstens zu relativieren, um im Gegenzug zu begründen, warum Tiere eben doch nicht denken können.

Die moderne Kognitionsbiologie
Aller wissenschaftlichen Skepsis zum Trotz hat die Kognitionsbiologie in den letzten Jahren einen immensen Aufschwung erfahren. Selbst Tierarten, denen bisher der Ruf geistiger Schlichtheit vorausging, zeigen in Experimenten immer wieder verblüffende kognitive Leistungen. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass Fische, die noch heute selbst unter Aquarianern als instinktgesteuerte Roboter angesehen werden, in Experimenten erstaunliche Gedächtnisleistungen, hohe Lernfähigkeit und soziale Intelligenz demonstrieren? So konnte zum Beispiel nachgewiesen werden, dass der Buntbarsch das komplizierte Beziehungsgeflecht im Schwarm durchschaut und sein eigenes Verhalten daraus ableitet. Es zeigt sich immer deutlicher, dass viele Tiere einsichtsvoll handeln und ihre Denkleistungen nach logischen Prinzipien funktionieren - zwar nicht im Sinne einer sprachlich-argumentativen Logik, wohl aber im Sinne eines imaginativen „Handelns im Vorstellungsraum". Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist jedoch davon auszugehen, dass nach wie vor zahlreiche Tierarten in Bezug auf ihre kognitiven Fähigkeiten unterschätzt werden. Denn obgleich Kognitionsbiologen darum bemüht sind, durch exakte Fragestellungen nachvollziehbare, objektive Erkenntnisse zu gewinnen, sind auch sie oftmals im Netz vorgefasster Meinungen und tradierter Denksysteme verstrickt.

Intelligenz, eine Frage der Lebensumstände
Die Art und Weise des Denkens ist abhängig von äußeren Einflüssen – das gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere. Welches Wissen sich ein Individuum aneignet, hängt aber von seinen Erfahrungen in seinem jeweiligen Bezugssystem ab. Auch logisches Denken fällt nicht vom Himmel, sondern muss erlernt werden. So stößt mitunter die häufig überschätzte Intelligenz der Menschen sehr schnell an ihre Grenzen, nämlich dann, wenn in einer ungewohnten Situation nicht auf zuvor erworbenes Wissen und Erfahrung zurückgegriffen werden kann.
Der Verhaltensforscher Immanuel Birmelin illustrierte dies u. a. mit folgendem Experiment: Wir alle kennen vermutlich die von Schimpansen angewandte Hammer-Amboss-Technik, um harte Nüsse zu knacken. Diese Methode wird von den Müttern an die nachfolgenden Generationen weitergegeben, so dass mit Fug und Recht von einer schimpansischen „Nussknackerkultur" gesprochen werden kann. Birmelin wollte nun wissen, wie Menschen die scheinbar einfache Aufgabe des Nüsseöffnens lösen. Dazu stellte er die Urwaldbedingungen in einem Klassenzimmer eines Freiburger Gymnasiums nach: Mehrere Säcke Blumenerde wurden auf dem Boden verteilt, um einen weichen Untergrund zu schaffen, dazu fünf Holzstücke verschiedener Dicke und Schwere. Die „Versuchstiere", 17 Schüler des 13. Schuljahres kurz vor dem Abitur, wurden einzeln hereingerufen und sollten ihr Glück versuchen, Paranüsse mit den angebotenen Hilfsmitteln zu öffnen. Das Ergebnis: Von den 17 Schülern bedienten sich gerade einmal fünf auf Anhieb der Hammer-Amboss-Methode. Einige versuchten die Nuss auf dem weichen Boden mit einem Knüppel zu zertrümmern - natürlich ohne Erfolg. Andere probierten die verschiedensten Techniken aus, bis sie durch Versuch und Irrtum zur richtigen Lösung kamen. Neun Schüler schafften es überhaupt nicht.
Das Experiment wurde noch viele Male in verschiedenen Abiturientenklassen durchgeführt, immer mit vergleichbarem Ergebnis. Das Fazit Birmelins: „Wir sind Illusionisten im Glauben an unsere Intelligenz“.

Denken macht Freude
Geistige Anstrengungen sind nicht nur wichtig für eine optimale Gehirnfunktion, sie bereiten auch Freude. Das gilt ebenso für Menschen wie für Tiere. Aufmerksame Hunde- und Katzenhalter wissen, mit welcher Begeisterung ihre Tiere Probleme lösen. Auch die Heimtierindustrie hat auf diese Erkenntnisse reagiert und bietet eine Reihe von „Denksportspielen" für unsere vierbeinigen Freunde an. Spaß am Lernen findet man aber nicht nur bei Hunden und Katzen, sondern bei vielen weiteren Tierarten, gerade auch bei den sogenannten Nutztieren.

Fazit
Angesichts solcher Erkenntnisse kann kaum mehr geleugnet werden, dass Tiere in Ställen und Käfigen nicht nur unter physischen Einschränkungen, sondern auch unter chronischer geistiger Unterforderung und quälender Langeweile leiden – allen voran die hochintelligenten Schweine, von denen die überwältigende Mehrheit in konventioneller (Massen-)Haltung dahinvegetieren muss.

So sind sich auch viele Ethologen und Kognitionsbiologen darüber einig, dass sich unser Umgang mit Tieren tiefgreifend ändern muss. Über das Wie gehen die Meinungen aber auseinander. Viele beschränken sich darauf, bessere Haltungsbedingungen von Nutz-, Zirkus- und Zootieren zu fordern. Andere wie etwa Jonathan Balcombe fordern zwar auch verbesserte Haltungsbedingungen, gleichzeitig aber auch das Recht der Tiere auf ein erfülltes Leben in Freiheit. Auch der renommierte Ethologe Marc Bekoff zögert nicht, emotional und engagiert ethische Forderungen aus seinen Forschungsergebnissen abzuleiten. Er appelliert eindringlich an seine Leser, „durch die Welt zu gehen und jedes Lebewesen wie ein Gleiches zu behandeln - nicht Dasselbe, doch wie ein Wesen mit dem gleichen Recht auf Leben [...] Freundlichkeit und Mitgefühl müssen bei unseren Interaktionen mit Tieren und jedem anderen Lebewesen dieser Welt immer im Vordergrund stehen. Wir müssen uns wieder darauf besinnen, dass das Geben eine wundervolle Art des Empfangens ist.“

Literatur:
- Kramar, Thomas: Zoologie.
- Krähen kennen sich mit Hydrostatik aus. In: diepresse.com vom 7.8.2009
- Hungrige Krähen arbeiten mit Steinen und Wasser. In: 222. handelsblatt.com vom 6.8.2009
- Balcombe, Jonathan: Tierisch vergnügt. Ein Verhaltensforscher entdeckt den Spaß im Tierreich. Stuttgart: Kosmos, 2007
- Range, Friederike: Wie denken Tiere? Faszinierende Beispiele aus dem Tierreich. Wien: Ueberreiter, 2009
- Birmelin, Immanuel: Tierisch intelligent. Von zählenden Katzen und sprechenden Affen. Stuttgart: Kosmos, 2011
- Leake, Jonathan: The Secret Life of Moody Cows, in: Sunday Times, 27.2.2005
- Brandt, Reinhard: Können Tiere denken?
Ein Beitrag zur Tierphilosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009
- Deckert, Ralph: So schlau sind Tiere - Freiburger Verhaltensforscher ergründet tierischen Intellekt. In www.dieredaktion.de vom 24.4.2012
- Bekoff, Marc: Das Gefühlsleben der Tiere. Ein führender Wissenschaftler untersucht Freude, Kummer und Empathie bei Tieren. Mit einem Vorwort von Jane Goodall. Bernau: aminal-learn-Verl., 2008



Wie Tiere fühlen
Ein beleidigter Hund, eine hilfsbereite Ratte, ein mitfühlender Schimpanse, ein gerechter Wolf, ein verständnisvoller Elefant: Sind Tiere fähig, sich in andere hineinzuversetzen? Sind sie empathisch, altruistisch, fair und gar gerecht? Neue Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung scheinen zu revolutionieren, was man bisher über die Gefühlswelt der Tiere wusste. Eine Dokumentation auf Arte:


Wie Tiere "Persönlichkeit" entwickeln

Schmusekatzen und Streuner

Dass Tierliebhaber ihrem Tier persönliche Charaktereigenschaften zuschreiben, ist nicht verwunderlich. Doch neuerdings erforschen auch Wissenschaftler Tierpersönlichkeiten. Diesem Thema geht in SWR2 Wissen der Autor Martin Huber nach: zur Sendung hier

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